Gläserrücken.

An manche Dinge muss man erst erinnert werden, um sich daran zu erinnern, daß man sie erlebt hat. So geschehen bei mir, als ich vorhin diesen Beitrag bei Frau Zwilobit gelesen habe und sofort dachte, Mensch, das haste doch auch mal gemacht!

Und zwar auf einer kurzen Lagerfahrt ca. 1995 oder 1996 als Leiterin mit meiner damaligen Pfadfindergruppe, bestehend aus einem Haufen pubertierender Teenager. Wir übernachteten in einem Haus, somit waren also die wichtigsten Utensilien (Tisch, Stühle, Gläser, Papier) vorhanden. Irgendwie bekam ich mit, was die Mädchen später am Abend vorhatten, nämlich eben "Gläserrücken". Wie ich dann hörte, machte dieses Spiel derzeit die Runde auf den Partys und KinderGeburtstagen, und ich mußte ob der Verantwortung, die auf mir lag, überlegen, ob ich zulassen kann, was sie garantiert auch ohne meine Erlaubnis getan hätten. Zu verhindern wäre es also nicht gewesen, aber dann bitte mit Aufsicht, also mir. Ich kann nicht leugnen, daß ich auch neugierig war, wie sowas vonstatten geht, aber meine Hauptaufgabe bestand in der verantwortungsbewußten Betreuung dieser Kinder, und da ich in dieser Position natürlich auch schon einige Lektüren zum Thema Okkultismus und Spiritismus gelesen hatte, konnte ich in etwa erahnen, welche Fragen sie irgendwelchen "Geistern" stellen könnten, also einigten wir uns darauf, daß keine Fragen, die in Richtung "Wann sterbe ich?" oder ähnliches, was mit Tod zu tun haben könnte, gestellt werden.

Und dann war es soweit. Nach Mitternacht. Das Zimmer wurde noch abgedunkelt, wo es nötig war, eine Kerze auf den Tisch in die Mitte gestellt, jeder, der mitmachen wollte, saß auf einem Stuhl am Tisch. Eines der Mädchen, die das, was noch folgen sollte, nach eigenen Aussagen schon öfters getan haben will, führte Regie. Es wurde das ABC kreisförmig ausgelegt, dazu noch die Zahlen von 0-9, und ich meine mich erinnern zu können, daß es auch noch "Ja" und "Nein"-Kärtchen gab. Ein Glas mit Stiel, ähnlich einem Rotweinkelch, wurde gereinigt und mit einem Aschekreuz versehen, während diesen Rituals wurde das "Vater unser" gesprochen. Ich mußte mächtig in mich grinsen, das Ganze hatte was enorm Obskures, vor allem diese Ernsthaftigkeit, mit der die Mädchen das betrieben. Aber das Grinsen sollte mir noch mächtig vergehen.
Weitere Details werde ich hier nicht erwähnen, aber es ist auf jeden Fall wichtig gewesen, daß man den Geist fragt (und das deckt sich mit Frau Zwilobit's Bericht), ob er "gut" oder "böse" sei. Haken an der Sache: der "böse Geist" darf lügen, der "gute" sagt immer die Wahrheit. Also galt es erstmal durch die richtigen Fragen herauszufinden, welcher Geist gerade "anwesend" war; der erste war kein guter, also mußte er wieder in seine Welt (?) entlassen werden und das ganze Vorbereitungsritual begann von Neuem. Während eine Frage an den Geist gerichtet wurde (bei der tunlichst darauf geachtet wurde, daß niemand aus dem Kreis die Antort kennen kann), legten alle ihren Zeigefinger auf den Stellrand des Glases, und - ja! Es wanderte tatsächlich von einem Buchstaben zum anderen, wodurch sich ein Wort ergab, welches die Antwort zur gestellten Frage war.
Staunen bei allen, die das zum ersten Mal erlebten, auch bei mir. Wir konnten nur leise darüber diskutieren, warum das scheinbar "funktioniert", denn jedes heftigere Ausatmen hätte die kleinen Zettelchen durcheinandergewirbelt (einige Male passiert). Klar, es gibt zahlreiche Erklärungen dafür: daß da jemand schiebt; das Unterbewußtsein agiert unbemerkt und was weiß ich noch. Aber ich gebe zu, daß all diese Erklärungen für mich persönlich ungültig wurden, als ich die Frage stellte, wie mein Teddy heißt (das konnte niemand der Anwesenden wissen!) und - um mein Unterbewußtsein auszutricksen - meinen Finger nicht an das Glas, sondern in meinen Schoß legte.
Das Glas schob sich zum J.
Zum O.
S.
H.
U.
A.

Bingo.

Spätestens zu diesem Zeitpunkt war mir klar, was die Kinder und Jugendlichen so faszinierend am "Gläserrücken" finden. Bei einigen mag es die Faszination als solche sein, andere werden sicherlich dieses Medium schon mißbraucht haben.
Ich betrachte es somit also eher skeptisch, weil viele Gefahr laufen, ihren kompletten Lebensweg und anstehende Entscheidungen in die Hände (?) der "anderen Welt" (?) zu legen. Je nach Aktion und Fragen können bei den Teilnehmern solcher Sessions Ängste auftreten, die mitunter eine Wesensveränderung mit sich bringen können.
Darum, liebe Eltern & sonstige Erziehungsberechtigten: haltet die Augen offen. Immer.
twoblog - 2005-10-06 11:36

Unglaublich.

Woher nehmen Sie die Zeit (bei drei Kindern), um so lange Geschichten zu Papier zu bringen? Schreibt Ihnen die am Ende etwa unsere geschätzte Frau Araxe (vor)? ;-)

Budenzauberin - 2005-10-06 11:43

AllerWertester. Als Mutter von 3 Kindern und Haushälterin einer ca. 200m² großen Hütte arbeite ich somit im oberen Managment. Organisation ist also alles, und wer das so beherrscht wie ich, hat auch Zeit für solche Texte. ;-)

Man könnte sie theoretisch aber auch in Etappen vorschreiben und dann erst bloggen. *g*
twoblog - 2005-10-06 11:48

Das war klar.

Allerwertester kann nur Herr Budenzauber sein;-).
Brille - 2005-10-06 11:59

Man beachte die Uhrzeit. Das obere Management hat zu diesem Zeitpunkt viel Wichtiges bereits erledigt.
Auch die fetten Beiträge.
Budenzauberin - 2005-10-06 12:17

Falsch, Herr von und zu Altbau.
Er ist der allerallerallerallerwerteste. :-)
C. Araxe - 2005-10-06 13:45

@Herr Twoblog
Unglaublich. Wie Sie mein Zeitkontingent überschätzen.
zwilobit - 2005-10-06 17:13

Wahrscheinlich wäre ich auch dort hinausgeschmissen worden...

Yooee - 2005-10-10 13:43

Bei mir war es auch der Pfadfinderausflug, damals zur Hoppelmühle in der Näche von Nördlingen im Donauries. Ich war glaub ich in der dritten Klasse, hungrig nach Lagerfeuer und Waldluft, begierig Muster in Haselnussstöcke zu schnitzen und sie mit widerhakenbesetzten scharfen Spitzen zu versehen.

Abends saß die Gruppe um den Tisch, so dass immer die Spitzen der kleinen Finger die des Nachbarn auf beiden Seiten berührten. Der Kreis musste unbedingt geschlossen sein! Details konnten wir beim Geist der Hoppelmühle, den wir angestrengt beschwörten, nicht abfragen, aber immerhin bewegte sich der Tisch und es rumpelte gespenstisch auf dem Dachboden.

Dazu noch Geschichten, die der Erzähler von jemandem gehört hatte, der jemand kannte, der es wirklich erlebt hatte. Die von Männern handelten, die den eigenen Kopf unter dem Arm trugen, und von eingemauerten Katzen und dem Glöckchen der kleinen Kirche eines kleinen versunkenen Dorfes, das immer läutete, bevor im Nachbardorf jemand auf tragische Weise ums Leben kam.

Auf den Abend folgte eine der schlimmsten schlaflosen Nächte in meinem ganzen Leben. Kein Auge tat ich zu, ich traute mich nicht mal zum Pinkeln aufzustehen, bis es endlich hell wurde.

Auf die Nacht folgte eine Wanderung in den Wald und Milchreis mit Nutella zum Mittagessen.

In den Wald geh ich immer noch gerne, die anderen Dinge sollte man mal mitgemacht haben, aber besser nicht regelmäßig wiederholen. Vergessen werde ich diesen Ausflug bestimmt nie!

Budenzauberin - 2005-10-10 14:31

Also, an Tischerückenruckeln glaube ich ja nun üüüberhaupt nicht.
;-)

Ah, noch ein Gut-Pfädler - bemühst Du Dich auch noch immer, die Welt besser zu verlassen, als sie vorgefunden zu haben?
Yooee - 2005-10-10 16:15

Ich war da seinerzeit eigentlich nur Gast-Pfadfinder. Als Evangelischer hätte ich bei denen ja eigentlich gar nicht mitmachen dürfen, aber die evangelische Jungschargruppe war im Vergelich zu den Pfadfindern so action-arm.

Jeden Tag eine gute Tat tun, das tu ich sowieso, gar keine Frage. Gerade heute wird mich wahrscheinlich der heilige Georg wegen meiner Trackbackanleitung zum Mitarbeiter der Woche vorschlagen.

Für Kinder ist das vielleicht schon ein ganz guter Weg, einige wichtige Werte vermittelt zu bekommen, auch wenn ich es wegen der Christhudelei einiger Gruppen nicht immer so toll finde. Aber wenn dann 25 oder 30jährige noch mit gelb-blauem Halstuch rumrennen find ich es etwas albern. In dem Alter sollte man schon irgendwie seine eigene Umgebung geschaffen haben, in der man sich die Welt zurechtverbessert.
Budenzauberin - 2005-10-10 16:27

Also, bei uns sieht man das nicht so eng mit dem Christentum - soweit ich weiß, fragt da bei der Anmeldung niemand nach der Konfession, und ich als Leiterin (ähm...ich renne übrigens auf Veranstaltungen gerne mit den bunten Halstüchern rum, allerdings habe ich die Welt auch schon zu genüge verbessert und darf das *g*) bin sogar Atheist und keiner stößt sich dran.
Wertevermitteln finde ich auch gut, allerdings geht das nur, wenn da im Elternhaus schon Grundsteine gelegt wurden und da mangelt es doch bei vielen...oh, Sorry, ich muß weg, hab' gleich ein Date mit Georg, der will was mit mir besprechen...

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